Was ist Trauer?
Helfende Hände (HH): Was bedeutet Trauer für Sie?
Manuela Stamm (MS): Ich glaube, dass wir unser ganzes Leben lang auf den Tod vorbereitet werden. Wir müssen uns immer wieder von etwas verabschieden und Veränderungen akzeptieren; auch, wenn sie schmerzen und traurig machen: etwa, wenn wir den Job wechseln und liebe Kolleginnen und Kollegen zurücklassen, wenn das eigene Kind zuhause auszieht oder wenn Freundschaften enden. In diesen Situationen kann man Trauer sozusagen „üben“. Wenn wir diese Lektionen annehmen, sie in unser Leben integrieren und uns auf unsere Stärken konzentrieren, können wir auch mit dem Tod von Anderen und hoffentlich auch mit unserem eigenen Tod besser umgehen.
In meiner Arbeit mit Menschen mit Komplexen Behinderungen beobachte ich oft Trauer, wenn sich durch Personalwechsel Bezugspersonen ändern, wenn ein neuer Lebensabschnitt anbricht oder wenn Klientinnen und Klienten zunehmend geistige oder körperliche Fähigkeiten verlieren. Hier ist es wichtig, allen Emotionen Raum zu geben und gerade die Menschen, die sich verbal nicht oder nur eingeschränkt ausdrücken können, beim Begreifen und Benennen ihrer Gefühle zu unterstützen. Grundsätzlich gibt es kein Regelbuch zum Trauern: Alle Emotionen sind erlaubt und okay.
HH: Kann man sich dem Thema Trauer auch wissenschaftlich nähern?
MS: Ja, zum Beispiel hat die Psychologin Verena Kast die Trauer in vier Phasen untergliedert. Die erste Phase ist das Nicht-Wahrhaben-Wollen, bevor in Phase zwei die aufbrechenden Emotionen folgen. Phase drei beschreibt dann das Suchen und Sich-Trennen. In Phase vier entwickelt sich ein neuer Selbst- und Weltbezug.
Inzwischen weiß man jedoch, dass diese Phasen nicht zwangsläufig nacheinander stattfinden müssen. Trauernde können auch immer wieder in eine Phase rutschen, die sie vielleicht schon durchlebt haben oder auch Phasen überspringen. Insofern ist die Theorie in der praktischen Begleitung von trauernden Menschen nur bedingt hilfreich.
HH: Wie gehen Sie also stattdessen auf trauernde Menschen zu?
MS: Die wichtigsten Dinge sind zuhören, da sein, beobachten – und immer wieder Hilfe anbieten. Grundsätzlich gibt es keinen „Fahrplan“: Jeder Mensch trauert anders und in seiner Zeit. Alles ist richtig, nichts ist falsch. Trauer ist bunt und vielfältig. Es kann vieles gleichzeitig passieren oder aber nacheinander geschehen und auch immer wiederkehren.
Um herauszufinden, was die trauernde Person gerade braucht, kann man etwa fragen: „Kannst du deine jetzigen Gefühle benennen? Wo spürst du sie in deinem Körper? Nehme sie an, sie sind okay. Was brauchst du jetzt gerade? Wie konntest du dich bisher in schwierigen Situationen stabilisieren? Wer könnte dich jetzt unterstützen?“ Auch verbales Bestätigen der Emotionen kann helfen: „Ja, es tut weh; ja, du bist wütend; ja, du bist zutiefst traurig. All das ist Trauer. Sie wird dich durch diese Zeit begleiten und dich hindurchführen.“
Man könnte sagen, ich kombiniere Elemente aus systemischer Beratung, basaler Stimulation, Trauerarbeit und Palliativbegleitung. Daraus versuche ich dann – bildlich gesprochen – eine Socke zu stricken, die passen könnte. In der Trauerarbeit mit schwer mehrfachbehinderten Menschen ist dieser Vorgang natürlich deutlich komplexer und mit viel Ausprobieren verbunden.
HH: Für viele Menschen ist das Thema Tod mit großem Unbehagen verbunden und wird deshalb gerne ausgeblendet. Wie viel Raum geben Sie dem Tod im Leben?
MS: Ich sehe den Tod als Veränderung. Zu etwas oder in etwas, das wir als Menschen im Hier und Jetzt nicht kennen. Alle, die das beantworten könnten, sind ja tot.
Fest steht: Unser Leben hier in dieser Art und Weise ist endlich. Wenn wir unsere Ressourcen kennen, um uns wieder zu stabilisieren, und andere Menschen an unserer Seite haben, die uns in belastenden Zeiten beistehen, können wir auch schwierige Zeiten durchleben und daran wachsen.
Seitdem ich mich so intensiv mit dem Thema Trauer und Tod auseinandersetze, hat sich meine Einstellung zum Tod massiv verändert. Ich bin im Hier und Jetzt viel dankbarer für alles, was ich täglich erlebe und kann Veränderungen besser annehmen.
Trauerbegleitung für Menschen mit Komplexen Behinderungen
HH: Was machen Sie als Trauerbegleiterin bei Helfende Hände?
MS: Ich stehe sowohl Klientinnen und Klienten als auch Mitarbeitenden, die in Trauer sind oder einen Menschen in Trauer begleiten, als Ansprechpartnerin zur Verfügung – so lange, wie sie mich brauchen. Da Trauerphasen bekanntlich nicht linear ablaufen, begleite ich die Menschen nach einer Pause auch erneut. Gerne können sich auch Eltern oder Angehörige unserer Klientinnen und Klienten an mich wenden.
HH: Viele Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen können sich nicht oder nur eingeschränkt mitteilen. Wie finden Sie heraus, was diese in Trauersituationen brauchen?
MS: Diesen Prozess kann man gut mit dem Zusammensetzen eines Puzzles vergleichen. Es geschieht viel durch Ausprobieren und durch Ausschluss. Auch der Austausch mit engen Bezugspersonen spielt eine entscheidende Rolle. Oft steckt Trauer hinter Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick nicht erklärbar sind: erhöhte Anfallsbereitschaft, Stimmungsschwankungen, Aggressivität, auffallende Passivität, Weinen, Schreien oder andere körperliche Symptome, denen kein medizinischer Grund zugeordnet werden kann. Enge Begleitpersonen wissen außerdem, was der betroffenen Person guttut und im Alltag hilft, sich zu stabilisieren. Daraus lassen sich dann Rituale und Maßnahmen ableiten.
Über Körperkontakt und basale Angebote können wir auch mit Menschen, die sich verbal nicht äußern können, in die Kommunikation gehen. Manchen Klientinnen und Klienten helfen musische Angebote wie Traumreisen oder Körperwahrnehmungen. Außerdem biete ich Gespräche an oder helfe dabei, Orte der Trauer zu finden. Bei Helfende Hände haben wir im Garten zum Beispiel unseren Gedenkstein zu Ehren von verstorbenen Klientinnen, Klienten und Mitarbeitenden von Helfende Hände. Egal, ob man nun Menschen ohne oder mit Behinderung in ihrer Trauer begleitet: Da sein, Sicherheit vermitteln und die Situation gemeinsam aushalten sind die wichtigsten Hilfen.
HH: Welche Angebote zur Trauerbegleitung gibt es denn generell für Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen?
MS: Menschen mit kognitiven und körperlichen Besonderheiten empfinden in ihrer Trauer nicht anders als Menschen ohne Beeinträchtigungen. Weil sie ihre Gefühle oft aber nicht verbalisieren können, werden sie in diesem Aspekt von Politik und Gesellschaft aus meiner Sicht vernachlässigt. Spezialisierte Angebote zur Trauerbewältigung für Menschen mit Komplexen Behinderungen sind leider bisher unterrepräsentiert. Ich wünsche mir, dass das Thema in den Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie in der Politik viel mehr Aufmerksamkeit erhält.
Außerdem würde ich mehr niedrigschwellige Weiterbildungsmöglichkeiten für betreuendes Fachpersonal begrüßen. Ich selbst habe mich in einem mehrtägigen Seminar bei der Diözese Augsburg als Trauerbegleiterin ausbilden lassen und im Anschluss einen Qualifizierungskurs beim Trauerzentrum Lacrima in Augsburg besucht. Nicht jeder und jede hat aber im Berufsalltag die zeitlichen Ressourcen dafür. Es wäre deshalb schön, wenn Einrichtungen oder Stiftungen zum Beispiel mehr Vorträge oder Fortbildungen zum Thema Trauer anbieten würden.
Durch die Trauer navigieren
HH: Gibt es Rituale und Ausdrucksmöglichkeiten, die vielen Trauernden helfen?
MS: Generell gibt es kein Patentrezept, das allen Trauernden hilft. Jeder muss hier den passenden Weg für sich finden. Ein grundsätzliches Ziel der Trauerarbeit ist aber immer dasselbe: Wir müssen einen neuen Platz für die verstorbene Person finden. Die Verbindung geht nicht verloren, aber sie verändert sich.
Ich kann an dieser Stelle einige mögliche Rituale für die Trauerarbeit nennen:
Den Tod „begreifen“
Um den Tod zu verstehen, ist es hilfreich, entweder beim Sterbeprozess dabei zu sein, oder im Anschluss die verstorbene Person zu besuchen, sofern es möglich ist. Man kann den verstorbenen Menschen sehen, anfassen und verabschieden. Wenn das nicht geht, kann man zum Beispiel ein leeres Bett zeigen.
Die verstorbene Person noch einmal zu sehen, halte ich grundsätzlich auch dann für richtig, wenn der Verstorbene zum Beispiel durch einen Unfall, Suizid oder Gewalt zu Tode kam. Hier entscheiden viele Hinterbliebene anders, da sie den Menschen so in Erinnerung behalten möchten, wie sie ihn kannten. Das sehe ich kritisch, denn die Realität ist immer besser als alles, was zwangsläufig in der Fantasie entsteht. Außerdem kann man meist den Körper des Verstorbenen so aufbereiten beziehungsweise verdecken, dass nur etwa eine Hand oder ein Teil des Gesichts zu sehen ist. Das genügt, um die Verbindung zu der uns so vertrauten Person herzustellen und uns in Würde verabschieden zu können.
Einen Ort der Trauer finden
Eine große Hilfe kann sein, einen Ort zu finden, an dem ich meiner Trauer Raum geben kann. Das kann ein besonderer gemeinsamer Platz sein, eine Gedenk-Ecke mit Erinnerungsstücken, ein Grab – oder ein Gedenkstein wie bei Helfende Hände. Wenn ich mir bewusstmache, was die geliebte Person ausgemacht hat, was ihr besonders gefallen oder mich mit ihr verbunden hat, kann ich diese Erinnerungen sichtbar machen, würdigen und behüten.
Die Erinnerung aufrechterhalten
Auch das Bewahren der Erinnerung kann uns dabei helfen, in unserem Leben einen neuen Platz für die verstorbene Person zu finden. Das kann zum Beispiel über das Backen des Lieblingskuchens, das Hören der Lieblingsmusik oder das Befüllen einer Trauerkiste geschehen. Eine schöne Idee ist auch das Nähen von Erinnerungsstücken aus der Kleidung des Verstorbenen, etwa eine Kuscheldecke, ein Kissen oder ein Stofftier. Hierfür gibt es zahlreiche Angebote im Internet.
Ausdrucksmöglichkeiten der Trauer finden
Manche Menschen können ihrer Trauer über Musik, Geschichten, Gedichte oder kreative Arbeit Ausdruck verleihen. Der Weg ist ganz individuell.
Gemeinsam trauern
Wichtig ist, sich seiner Ressourcen bewusst zu sein und Strategien zu entwickeln, emotional belastende Zeiten durchleben zu können. Hierfür braucht es Menschen an der Seite, die einen stabilisieren und für einen da sind. Das kann auch „professionelle“ Hilfe in Form einer Trauergruppe oder einer Trauerbegleitung sein.
HH: Frau Stamm, vielen Dank für das offene und bereichernde Gespräch.
Das Interview führte Julia Dau, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei Helfende Hände
Manuela Stamm
Fachdienst Förderstätte
089 829281-0
manuela.stamm@helfende-haende.org
Literatur-Tipps
Sterben, Tod und Trauer bei Menschen mit Komplexer Behinderung (Broschüre von Stiftung Leben pur (PDF-Download)
Leben bis zuletzt: Sterben, Tod und Trauer bei Menschen mit Komplexen Behinderungen (Buch von Nicola Maier-Michalitsch und Gerhard Grunick)
Themen-Spezial: Umgang mit Tod und Trauer
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