Therapie für Menschen mit Komplexer Behinderung

„Man kann sich seiner Arbeit kreativ und mit ganz viel Eigeninitiative nähern“

Therapie für Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen: Interview mit Ergotherapeutin Kathrin Wenz von Helfende Hände

Kathrin Wenz ist ausgebildete Ergotherapeutin und arbeitet für und mit Menschen mit Komplexen Behinderungen. Als Therapieleitung ist sie bei Helfende Hände der Kopf der therapeutischen Praxen im Haus, die sie teilweise auch selbst mit aufgebaut hat. Etwa 30 Physio- und Ergotherapeut:innen sowie Logopäd:innen begleiten an zwei Standorten Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Mehrfachbehinderungen. Ihr Ziel: Die individuellen Fähigkeiten fördern und erhalten und möglichst viel Selbstbestimmung ermöglichen.

Wieso Menschen mit Komplexen Behinderungen für Kathrin Wenz die absoluten Lieblingsklienten sind, warum man als Therapeut:in seine Kreativität hier optimal entfalten kann und was sich dringend in Politik und Gesellschaft ändern muss, damit mehrfachbehinderte Menschen wirklich am sozialen Leben teilhaben können, erzählt sie im Interview.

Helfende Hände (HH): Frau Wenz, Sie sind seit 16 Jahren für Helfende Hände tätig und kennen die Arbeit mit mehrfachbehinderten Menschen sehr gut. Wo liegt denn der größte Unterschied zur therapeutischen Arbeit mit Menschen ohne Behinderung?

Kathrin Wenz (KW): Zunächst ist das mitunter die Kommunikation: Unsere Klienten können sich verbal oft nicht so mitteilen, wie wir das von Menschen ohne Behinderung kennen. Sie äußern sich oftmals per Talker, das heißt mithilfe von Unterstützter Kommunikation, basal oder über Kleinstbewegungen. Das kann die Kontaktaufnahme sowie die Behandlungsansätze zunächst erschweren und der Beziehungsaufbau zwischen Therapeut und Klient dauert hier sehr viel länger.

Ein großer Unterschied ist außerdem die Zielsetzung, vor allem in der Arbeit mit erwachsenen Klienten: In therapeutischen Ausbildungen arbeitet man darauf hin, Einschränkungen zu verbessern. In der Arbeit mit mehrfachbehinderten Erwachsenen geht es aber viel mehr um den Erhalt von Fähigkeiten. Es lassen sich zwar Verbesserungen erzielen, das passiert aber in Kleinstschritten, ist oftmals sehr langwierig und erfordert intensive und langfristige Zusammenarbeit zwischen Therapeut und Klient. Diese Herausforderung macht die therapeutische Arbeit jedoch vielfältig und interessant und fordert den Therapeuten täglich dazu auf, Behandlungsansätze zu überdenken und neu zu planen.


HH: Ist eine so intensive und konsistente Begleitung in der Realität überhaupt machbar?

KW: Das ist der große Vorteil der therapeutischen Angebote von Helfende Hände: Dadurch, dass wir mit unseren Praxen direkt im Haus niedergelassen sind, können wir uns intern in Arbeitskreisen organisieren und sind viel direkter in den Alltag der Klienten eingebunden. Vor Kurzem haben wir die Therapieangebote an beiden Standorten zusammengelegt. Die neue Struktur gibt uns die Möglichkeit, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auch im Erwachsenenalter zu begleiten und therapeutische Ziele weiterzuverfolgen.

Wir begleiten unsere Klienten in der Regel über viele Jahre hinweg: nicht nur durch verschiedene Altersphasen, sondern auch durch unterschiedliche Lebensabschnitte. Hinzu kommt unser Glück, dass wir eine gute Kontinuität im Team haben und den Menschen, die wir begleiten, stabile Bezugspersonen bieten können. Viele haben ihren Lebensmittelpunkt irgendwann bei Helfende Hände. Dann sind vertraute Bezugspersonen umso wichtiger.

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Zuhause mit Herz: ein Einblick in die Wohngruppen von Helfende Hände in München. (Video: Helfende Hände)

HH: Was gehört denn alles zum therapeutischen Angebot bei Helfende Hände?

KW: Neben den individuellen, personenzentrierten Einzeltherapien gehören auch noch Gruppentherapien, tiergestützte Therapie, Hilfsmittelanpassung und -versorgung in Zusammenarbeit mit Fachfirmen, Urlaubsprogramme und die Unterstützung des sozialen Umfelds zu den Schwerpunkten unserer therapeutischen Praxen. Für 2024 haben wir im Kinderbereich erstmals geplant, auch während der Schließzeiten der Heilpädagogischen Tagesstätte ein Therapieprogramm anzubieten. So können die Kinder und Jugendlichen zwar ihre wohlverdienten Schulferien genießen, müssen währenddessen aber trotzdem nicht auf therapeutische Förderung verzichten.

Auch Sitzungen mit Therapiehund Mia gehören zum Angebot von Helfende Hände in München. (Foto: Helfende Hände)
Auch Sitzungen mit Therapiehund Mia gehören zum Angebot von Helfende Hände in München. (Foto: Helfende Hände)

HH: Sie haben ja schon angedeutet, dass die Zielsetzung in der therapeutischen Arbeit mit mehrfachbehinderten Menschen eine andere ist und besonders Kontinuität wichtig ist. Können Sie das näher beschreiben?

KW: Die genaue Zielsetzung der Therapie kommt immer ganz auf den Fachbereich und auf die individuellen Bedürfnisse der Klienten an. In der Logopädie geht es zum Beispiel meist darum, dass sich die Menschen mit Hilfe von Unterstützter Kommunikation besser mitteilen können. Auch die Schluckfähigkeit ist oft ein großes Thema. Wir unterstützen den Klienten mit kreativen Ideen und Lösungen dabei und ermöglichen so ein Mindestmaß an eigenständiger Nahrungsaufnahme.

In der Physiotherapie liegt der Fokus in vielen Fällen auf dem Erhalt und der Verbesserung der Beweglichkeit. Generell kann man aber sagen: Das übergeordnete Ziel aller Therapieangebote für Menschen mit Komplexen Behinderungen ist eine größtmögliche Selbstbestimmung und das selbstständige Wirken im Alltag. Ich wünsche mir generell für Menschen mit Komplexen Behinderungen, dass sie Möglichkeiten erfahren, selbstbestimmt zu handeln und ihren Alltag mitgestalten zu können. Wir Therapeuten haben durch unsere Erfahrungen, fachspezifischen Ausbildungen und individuellen Weiterbildungen gute Werkzeuge an der Hand, um hier einen Beitrag leisten zu können.

„Das übergeordnete Ziel aller Therapieangebote für Menschen mit Komplexen Behinderungen ist eine größtmögliche Selbstbestimmung.“

Kathrin Wenz, Therapieleitung bei Helfende Hände
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Entscheidungen treffen: ein wichtiges Therapieziel in der Arbeit mit mehrfachbehinderten Menschen. (Video: Helfende Hände)

HH: Wie kann so ein Zugewinn an Autonomie durch die richtige therapeutische Begleitung zum Beispiel aussehen?

KW: Lena (Name von der Redaktion geändert), eine Schülerin im Förderzentrum von Helfende Hände, hat vor Kurzem ein neues Gehgerät bekommen. Das Hilfsmittel hat es ihr ermöglicht, zum ersten Mal ohne Handführung zu laufen und ihre Hände beim Gehen frei zu nutzen. Das sind Meilensteine in der persönlichen Entwicklung, die ganz neue Perspektiven selbstbestimmten Handelns eröffnen. Alle Mitarbeitenden haben diesen besonderen Moment mit Lena gefeiert. Das mitzuerleben, motiviert das gesamte Team und mich ungemein.

Gerade im Bereich der Kinder und Jugendlichen erleben wir viele solcher Momente, hier ist das Potenzial für Verbesserungen und den Erwerb neuer Fähigkeiten enorm. Durch Hilfsmittel können wir ganz viel erreichen und die Kinder dazu befähigen, eigene Potenziale zu erkennen und zu nutzen.

Therapie im schulischen Umfeld bei Helfende Hände in München: Auch während der Ferien müssen die Kinder und Jugendlichen nicht auf therapeutische Förderung verzichten. (Foto: Bethel Fath / Helfende Hände)
Rollstühle und Gehgeräte sind wichtige Hilfsmittel, um eigene Potenziale zu erkennen und zu nutzen. (Foto: Bethel Fath / Helfende Hände)

Im Erwachsenenbereich ist das etwas schwieriger, aber Fortschritte gibt es trotzdem. Sie sind zwar kleiner, aber deshalb nicht unwichtiger. Hier finde ich einen Leitsatz aus einem ergotherapeutischen Konzept sehr treffend: das Bewusstwerden von Kleinigkeiten. Das passt gut zu unseren Klienten. Wir müssen vermeintliche Kleinigkeiten erkennen und wertschätzen, denn unsere Arbeit stellt ein wichtiges Puzzleteil dar, um Menschen mit Komplexen Behinderungen zu mehr Selbstverwirklichung in ihrem jeweiligen Rahmen zu befähigen. Leider werden wir hier seitens der Krankenkassen immer wieder vor große Hürden gestellt.


HH: Welche Hürden sind das?

KW: Krankenkassen wissen sehr wenig über die Bedürfnisse von Menschen mit Komplexen Behinderungen, deshalb fallen sie oft aus dem „Standardrepertoire“ der Kassen heraus. Das muss sich ändern. Die Wichtigkeit von Gehgeräten wie im Beispiel von Lena wird dort oft nicht erkannt und entsprechende Anträge werden vorerst abgelehnt; besonders, wenn es um erwachsene Klienten geht. Was diese Hilfsmittel aber an Lebensqualität bringen können, ist enorm.

Auch in den fachlichen Ausbildungen werden die Bedürfnisse von Menschen mit Komplexen Behinderungen sehr stiefmütterlich behandelt. Welche Möglichkeiten in der therapeutischen Arbeit mit diesen Menschen bestehen, wird nicht ausreichend thematisiert und Spezialwissen für diese Klientel muss man sich aus verschiedenen Ausbildungsinhalten mühsam zusammensuchen. Deshalb gehen wir intensiv auf Fachakademien zu, halten dort Vorträge und Schulungen und bauen Kooperationen auf. Unsere Klienten müssen sichtbarer werden, um auch das Interesse von Fachpersonal an dieser besonderen Zielgruppe zu wecken.

HH: Was müsste aus Ihrer Sicht noch passieren, um Menschen mit Mehrfachbehinderungen sichtbarer zu machen?

KW: Die offene Architektur des Helfende-Hände-Standorts in der Reichenaustraße im Münchner Westen ist für mich ein schönes Beispiel für mehr Sichtbarkeit. Der Gedanke der Inklusion hat damals schon in die Architektur Eingang gefunden. Das Gebäude ist sehr offen gestaltet, auch nach außen hin. Es gibt viel Glas, die Außenflächen der Wohngruppen sind privat und gemütlich, verstecken sich jedoch nicht. Diese Sichtbarkeit sollte viel mehr Einzug in die Öffentlichkeit halten.

Offene Architektur mit viel Glas: Helfende Hände in München. (Foto: Helfende Hände)
Offene Architektur mit Gemütlichkeitsfaktor: die Wohngruppen von Helfende Hände im Münchner Westen. (Foto: Helfende Hände)

„Ich würde mir wünschen, dass Menschen mit Behinderung in der Gestaltung öffentlichen Raums viel mehr mitgedacht werden.“

Kathrin Wenz, Ergotherapeutin für Menschen mit Komplexen Behinderungen

Durch Initiativen wie Toiletten für alle oder barrierefreie Spielplätze tut sich hier schon viel – von ganz vielen Bereichen des öffentlichen Lebens sind Menschen mit Behinderung aber nach wie vor ausgeschlossen. Die Parkhäuser moderner, öffentlicher Gebäude sind zu niedrig für ganz normale Behindertenbusse oder die Behandlungsliegen in gynäkologischen und anderen Praxen sind nicht geeignet für die körperlichen Voraussetzungen von Menschen mit Mehrfachbehinderungen. Es gibt unzählige solcher Beispiele, die den Alltag oft erschweren.

Diese Barrieren machen es auch unseren Mitarbeitenden unheimlich schwer, Ausflüge mit den Klienten zu unternehmen oder alltägliche Dinge wie Arztbesuche problemlos zu bewältigen. Das sorgt wiederum dafür, dass Menschen mit Komplexen Behinderungen im öffentlichen Raum viel zu wenig wahrgenommen werden.

Ergotherapeutin Kathrin Wenz von Helfende Hände in München spricht sich für die Gestaltung öffentlichen Raums zugunsten von Menschen mit Behinderung aus. (Foto: Fabian Helmich / Helfende Hände)
Alltägliche Besorgungen gemeinsam mit Klient:innen sind wegen Barrieren im öffentlichen Raum oft schwierig. (Foto: Helfende Hände)

HH: Was erwartet Therapeutinnen und Therapeuten denn, die sich für die Arbeit mit mehrfachbehinderten Menschen entscheiden?

KW: Ich persönlich finde, dass es keine spannenderen Klienten gibt. Keine Therapie ist gleich, man kommt immer wieder auf neue Ideen und kann sich seiner Arbeit kreativ und mit ganz viel Eigeninitiative nähern. Außerdem bekommt man von unseren Klienten immer ehrliches und ungefiltertes Feedback.

Wenn man sich einmal für die Arbeit mit Menschen mit Komplexen Behinderungen entschieden hat, gibt es oft kein Zurück mehr, da die Klienten einem so sehr ans Herz wachsen. Durch die therapeutische Begleitung oft über viele Jahre hinweg erkennt man Werte und Ziele, die für den Alltag nicht betroffener Menschen oft klein erscheinen, für uns jedoch Meilensteine bedeuten. Diese Art und Weise einer Zusammenarbeit mit den Kollegen aus Schule, HPT, Förderstätte, Wohnen, den Angehörigen und gesetzlichen Vertretern gibt mir täglich einen Grund, gerne und mit einem guten Gefühl zur Arbeit zu kommen.

„Keine Therapie ist gleich, man kommt immer wieder auf neue Ideen und kann sich seiner Arbeit kreativ und mit ganz viel Eigeninitiative nähern.“

Kathrin Wenz, Ergotherapeutin, über die Arbeit mit mehrfachbehinderten Menschen

HH: Welche Voraussetzungen sollte man erfüllen, um therapeutisch mit mehrfachbehinderten Menschen zu arbeiten?

KW: Neben den fachlichen Voraussetzungen sollte man eine offene Persönlichkeit mitbringen und Lust haben, mitzugestalten und sich fachlich gemeinsam im Team weiterzuentwickeln. Dadurch, dass es hier kein „Standardprozedere“ gibt, entwickeln wir ständig gemeinsam neue Konzepte und Ideen. Das Wichtigste ist natürlich, die Klientel zu mögen. Um zu sehen, welche besonderen Menschen wir hier begleiten dürfen, ist es bei Helfende Hände üblich, in der Bewerbungsphase einen Tag zu hospitieren. 

In unserer täglichen Arbeit ist oftmals auch viel Einfühlungsvermögen gefragt. Wir unterstützen Angehörige und Eltern bei den unterschiedlichsten Meilensteinen der persönlichen Entwicklung ihrer Kinder, zum Beispiel bei der Anpassung der ersten Rollstuhlversorgung. Gleichzeitig verstehen wir uns als Fürsprecher unserer Klienten, zum Beispiel wenn es um die Abnabelung vom Elternhaus geht.


HH: Frau Wenz, vielen Dank für den spannenden Einblick und das offene Gespräch.

Das Interview führte Julia Dau, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei Helfende Hände


Für die bessere Lesbarkeit wird in der wörtlichen Rede nicht gegendert und das generische Maskulinum verwendet. Es sind aber stets alle Geschlechter gemeint.

 

Ansprechpartnerin

Kathrin Wenz, Therapieleitung Erwachsene, Foto: Fabian Helmich

Kathrin Wenz

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089 829281-0
Helfende Hände gemeinnützige GmbH, Reichenaustraße 2, 81243 München

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